The Day the Music Died.
Tatort: Offenbach, Sprendlinger Landstraße 76, 3. Stock.
Lesedauer: 5 Minuten, die sich lohnen.
Music was my first love. Und beinahe auch meine letzte. Die erste Erinnerung meines Lebens: Meine Eltern nehmen mich auf einen Spaziergang mit und unterhalten sich dabei, dass wir um die und die Uhrzeit zurück sein müssen, weil da im Fernsehen in Bericht über die Beatles kommt. Klein-Matthias fragt, was denn die Beatles seien und meine Erzeugerin antwortet „Das ist eine Musikgruppe.“ Diese Szene habe ich so tatsächlich noch vor Augen. Es war im Treppenhaus, direkt vor der Tür unserer Dachgeschosswohnung in Offenbach, in der wir bis zum November 1974 lebten. Und ich meine sogar, mich daran zu erinnern, dass wir jenen TV-Bericht dann später zusammen anschauten, im Sinne von „Meine Eltern schauten ihn an und ich lümmelte im Wohnzimmer herum“. So weit, so gut, so unspektakulär.
Die Fortsetzung dieses meines Kennenlernprozesses der Fab Four war dann jedoch alles andere als unspektakulär. Im Gegenteil: Zum ersten Mal in meinem Leben ließ ich es ordentlich krachen.
Den Wochentag weiß ich nicht mehr. Aber es war früher Nachmittag.
Hatte ich erwähnt, dass meine Erzeuger riesige Beatles-Fans waren? Sie besaßen alle Platten der Pilzköpfe – alle. Die 7“-Singles auf Odeon Records und Apple Records, die LP’s – u. a. das ‚Weiße Album‘, ‚Revolver‘, ‚Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band‘, ‚Let it be‘ – alle. Fein säuberlich sortiert, wurden die in einem im Wohnzimmer, wenn man es betrat, an der rechten Wand auf Kniehöhe angebrachten weißen Schrank aufbewahrt. Ebenfalls darin platziert: die nagelneue, sich in einem festen Kartonschuber befindende Doppel-LP der Operette ‚Im weißen Rößl am Wolfgangsee‘. Die hatten sich meine Eltern gerade erst gegönnt, vom mühsam zusammengesparten Haushaltsgeld. Und … ich glaube, etwas von James Last war auch dabei, in einem roten Kartonschuber, ebenfalls eine Sonderedition. Die stand in dem Schrank ganz links.
Jedenfalls trug es sich eines Tages zu, dass mich meine Eltern zum obligatorischen Mittagsschlaf in mein Bettchen im von meinem Bruder und mir regierten Kinderzimmer legten. Dieses befand sich direkt neben dem Wohnzimmer. Das untere Stockwerk des Etagenbettes bewohnte mein Brüderchen, ich logierte im oberen.
Nun, im Nachhinein war es offensichtlich normal, dass uns unsere Eltern alleine in der Wohnung zurück ließen, wenn sie Besorgungen zu erledigen hatten. Sie glaubten uns ja schlafend. Einige Jahre später, als wir aus Offenbach weg gezogen waren und nördlich von Frankfurt gebaut hatten, brachten sie uns z. B. eines frühen Abends – ich war 7 oder 8 Jahre alt, mein Bruder war 2 Jahre jünger (das ist er übrigens heute noch) – früher als sonst zu Bett und ließen uns allein in unserem Haus, um nach München aufs Oktoberfest zu fahren. Kein Scherz. Spät nachts kamen sie dann wieder und wir Knirpse hatten nichts davon gemerkt, denn wir hatten durchgeschlafen. Diese Anekdote wurde später auf Familienfesten wieder und wieder erzählt. Aber egal, andere Geschichte, das hat gar nichts mit den Beatles zu tun. Beatles-bezogene Tatsache war, dass unsere Eltern an jenem hier thematisierten Nachmittag fort waren und ich meinen Mittagsschlaf hielt. Jedenfalls zunächst.
Die Ereignisse jenes schicksalhaften Nachmittags im Zeitraffer:
13:00 Uhr: Klein-Matze liegt brav im Bettchen und träumt von Entdeckungsreisen in die Welt der Musik. Mama und Papa sind weg.
13:23 Uhr: Klein-Matze wird wach. Hmmm, wach, keiner da, nix los hier – langweilig. Das ist ja doof … Ey, Leute: Alles muss man selber machen.
13:25 Uhr: A pro pos „Entdeckungsreise“. Ich verlasse mein Bett und werde der erste Teilnehmer an ‚Jugend forscht‘. Mal sehen, was passiert …
13:29 Uhr: Ich bin im Wohnzimmer angekommen. Stellen Sie sich jetzt einfach vor, ich stehe hier vor dem Plattenschrank, erfreue mich meines jugendlichen Forscherdrangs und komme mir vor wie Alexander von Humboldt, als er zum ersten Mal den Orinoco sah.
Was ich statt jenes südamerikanischen Flusses erblickte, war die Beatles-Sammlung meiner Eltern:
Stellen Sie nun selbstständig eine Verbindung zwischen jenen Vinylscheiben und diesem Beispielfoto her:
13:34 Uhr bis 14:16 Uhr: Ich finde heraus, dass Vinyl bricht, wenn man oft genug draufhaut oder wenn man es lange genug biegt. In jener Dreiviertelstunde habe ich die Beatles-Sammlung meiner Eltern zerstört. Auch das „weiße Rößl“ musste dran glauben.
Als meine Erzeuger nach Hause kamen, saß Klein-Matze jauchzend inmitten schwarzer Vinyl-Scherben.
Noch am selben Tag wurde ich in einem Schilfkörbchen auf dem Main ausgesetzt. Die Menschen, die mich später aufzogen, sind nicht meine leiblichen Eltern.
Wie ich (fast) alles wieder gut machte.
Das war natürlich nur ein Scherz. Wobei – so „natürlich“ nun auch wieder nicht. Denn Zufall oder gewollte Stigmatisierung, um mir mein Tun beständig vor Augen zu führen: Ich bekam einige der angebrochenen Schallplatten inkl. der dazu gehörenden Cover als Spielzeuge übereignet. Die lagerten noch Jahre später, als wir längst in unserem Fertighaus der Marke ‚Streif‘ lebten, in meines Bruders und meiner Spielzeugkiste. Zwar konnte ich nicht wirklich etwas damit anfangen, doch ich erinnere mich, dass ich die Gemeuchelten dann und wann heraus holte und es irgendwie faszinierend fand, dass darauf Musik abgespeichert war. Übrigens befanden sich unter den Delinquenten auch die angebrochenen 7″-Singles von Nancy Sinatra – ‚These Boots Are Made For Walking‘, sowie ‚The Swinging Blue Jeans – Hippy Hippy Shake‘. Was aus auch diesen Zeitzeugen wurde, weiß ich nicht genau, es könnte jedoch sein, dass sie in meinem Keller lagern. Sollte ich sie eines Tages finden, poste ich hier gerne ihre Porträts.
Nun, mehrere Jahre vergingen. Ich hospitierte mittlerweile in der 8. Klasse des gymnasialen Zweiges einer mittelhessischen Gesamtschule und besaß seit kurzem meine erste Stereoanlage, Marke: Pioneer. Auf die war ich bollestolz.
Just zu dieser Zeit betrat eines Morgens unserer Musiklehrer das Klassenzimmer und wir begannen, die Beatles durchzunehmen … Aus irgendeinem Grund hatte ich ein Déja-vù … Denn ich hatte das Gefühl, die Beatles bereits durchgenommen zu haben (und zwar so richtig).
Jedenfalls entdeckte ich während der kommenden Unterrichtsstunden die Fab Four neu. Viele der Songs kamen mir dabei bekannt vor – kein Wunder, waren sie doch während meiner ersten Lebensjahre des Öfteren im Radio gelaufen bzw. hatten meine Eltern ihre Platten gespielt … Die Songs, die mich nun abermals, jedoch im friedlich-wissenschaftlichen Kontext, begeisterten, waren insbesondere die Frühwerke von John, Paul, George und Ringo: ‚She Loves You‘, ‚A Hard Days Night‘ und ‚Love Me Do‘. Das tun sie übrigens bis heute: Bei dem Trommelwirbel, der ‚She Loves You‘ eröffnet, schießt mir die volle Ladung Adrenalin durch den Körper. Nun, dank des Musikunterrichts bekam ich zumindest eine Ahnung vom gefühlt so unendlichen wie genialen Beatles–Oeuvre und ich erstand beim Vinylhändler meines Vertrauens, im ‚Breitenfelder‘ in der Kaiserstraße unserer Kreisstadt Friedberg, von meinem mühsam zusammengesparten Taschengeld, diese ‚Greatest Hits‘-Compilation:
Das Interessante: Dies muss im Frühjahr 1985 gewesen sein und meine zuvor erworbenen Platten waren von Depeche Mode, Duran Duran, Nena, Billy Idol und Alphaville gewesen. The Beatles stachen also heraus. Doch obwohl mit dem knappen Taschengeld extrem gut gewirtschaftet und ergo stets abgewogen werden musste „Kaufe ich davon eine Platte oder Leerkassetten zum Aufnehmen aus dem Radio?“: Dieser Kauf musste sein! Im ‚Beatles‘-Plattenfach im Breitenfelder suchte ich bewusst nach einer Greatest-Hits-Compilation und entdeckte diese Scheibe. Denn die im Musikunterricht erlebte Kreativität und die Energie dieser Songs waren zu groß, der Zauber, den sie auf mich hatten, war einzigartig – es war anders als das, was Nena und Alphaville mit mir machten. Irgendwie verspürte ich ein „Ur-Gefühl“, etwas ganz Tiefsitzendes – klar, bei der Vorgeschichte … 😉
Und so präsentierte ich, als ich mit meiner neuen runden Errungenschaft nach Hause kam, sie nicht ohne Stolz meiner Mutter. Wie sie reagierte, weiß ich allerdings nicht mehr … 😉
Zum 18. Geburtstag bekam ich die einzige Überlebende geschenkt:
Ich erhielt sie in Geschenkpapier verpackt überreicht: die einzige Platte, die jenes Massaker ohne Bruchstellen überlebt hatte. An die begleitenden Worte meiner Erzeugerin erinnere ich mich genau: „Wir sehen ja, dass du es mittlerweile zu schätzen weißt.“ Ehrfurchtsvoll platzierte ich dieses musikhistorische Ton- und Lebensdokument in die sicherste Ecke des Racks meiner Pioneer-Anlage und ich besitze sie, selbstverständlich, noch heute.
Mehr noch: Dann und wann, wenn ich mich in den vergangenen Jahren an jene Anekdote erinnerte, stöberte ich ein wenig auf ebay und erwarb einige Zeugnisse jener größten Band aller Zeiten – mit einer, wie Sie jetzt verstehen, für mich ganz besonderen Bedeutung.
Schätze, die ich hüte:
All you need is Love – and Music.
Ich finde es jedenfalls immer wieder erstaunlich, wie in frühen Lebensaltern erfahrene Musik zum gefühlten Bestandteil der persönlichen DNA wird, zum Kulturbaustein des Charakter-Fundaments. Ja, frühkindliche Musikerziehung, ob in der Kita, im Kindergarten, in der Grundschule oder durch freiberufliche Musikpädagogen, ist heute Usus. Freilich jedoch in einem didaktischen Kontext. Das wirklich Spannende ist doch das unbewusste Erlebnis, der Prägevorgang auf der Instinktebene. Das Ungeplante.
Ich finde / fände es daher schön, wenn Eltern und Kinder – und ich meine auch „Kinder im jugendlichen und erwachsenen Alter – sich u. a. über charakterbildende Parameter wie Musik austausch(t)en, wenn sie sich erzähl(t)en, welche persönlichen Erinnerungen man an diese und jene hat, welche Auslöser es hatte oder warum man heute komplett anders hört als in früheren Lebensabschnitten. Eltern vergessen leider irgendwann, wie das damals bei ihnen war, als sie jung / jünger und von Musik begeistert waren. Ja, die heute lebensthemenbedingt einen womöglich zwar geringeren Stellenwert hat, die jedoch maßgeblich zum eigenen Sein beitrug. Außer natürlich, die Kinder entdecken Sänger oder Bands für sich, die früher auch die Eltern liebten – so wie ich die Beatles. Dann ist das Hallo groß: „Ja, diiiieee fanden wir damals schon gut!“ Dann bekommen Eltern glänzende Augen und erzählen. Doch nur eine Stunde später heißt es wieder „Mach deine verdammte Musik leiser!“
Ich persönlich habe oft versucht, meinen Eltern meine Liebe zu einer bestimmten Musikform, einer bestimmten Band oder bestimmten DJ‘s zu vermitteln – vergeblich. Mit Anfang 20, Anfang der 90er-Jahre, vereinnahmte mich z. B. elektronische Musik. House und Techno erlebten ihren kreativen Höhepunkt und eroberten die Welt. Es war die bis dato letzte große Musikrevolution. Aufgewachsen vor den Toren Frankfurts, einem Epizentrum jener Musikform, zogen mich die Clubs und die Szene dieser Stadt magisch an (dazu später, an anderer Stelle, mehr). Völliges Unverständnis vonseiten meiner Eltern. Leider. Auch die Aufzeigung von Parallelen zu einstmals (in den 50ern und 60ern) von ihnen bewunderten Künstlern, wie Peter Kraus, den Beatles oder den Rattles mit Frontmann Achim Reichel, die damals ebenfalls Neues kreierten und damit begeisterten: vergebens.
An dieses Gespräch erinnere ich mich gut: „Ihr standet ja damals auf die Beatles und die Rattles.“ – „Ja, aber das war ja auch noch richtige Musik!“ – „Nun, damals war die E-Gitarre revolutionär und sorgte bei Puristen zunächst für Irritation und Ablehnung. Heute kann man Musik auch mit Computern und Synthesizern produzieren – das ist dieselbe Form einer technischen Weiterentwicklung.“ – „Aber deine DJ’s spielen doch nur Platten, die machen doch keine richtige Musik!“ Ich versuchte, ihnen das Thema „Spannungsbögen“ zu vermitteln – ohne Erfolg. Mein an jenem Abend letzter Versuch: „Wenn heute Peter Kraus im Fernsehen auftritt, Lederjacke trägt und Gitarre spielt – wie findet ihr das?“ – „Das ist doch toll, Peter Kraus ist einer aus unserer Generation, der ist ein echter Rocker, ist doch toll, wie der sein Ding durchzieht!“ – „Mein Peter Kraus heißt Sven Väth.“ Unverständnis. Kein weiteres Interesse. So schade. Denn: Ist es nicht toll, auch Musikerfahrungen miteinander zu teilen, sich auch dadurch mitzuteilen? Deshalb freue ich mich beim Auflegen als DJ jedes Mal aufs Neue darüber, wenn Menschen bei ihrer und über ihre Musik kommunizieren.
Für die Anekdote mit der Beatles-Sammlung bin ich jedenfalls sehr dankbar. Und auch dafür, anschließend nicht zur Adoption freigegeben worden zu sein, sondern mich bis heute der schönsten Nebensache der Welt widmen zu können. Sorry, Fußballfans 😉
Haben auch Sie derart prägende Erinnerungen an (Ihre) Musik? An eine bestimmte Band, an einen Künstler (w/m/d) oder an bestimmte, mit Musik in Zusammenhang stehende Erlebnisse?
Schreiben Sie es mir per Mail oder als Kommentar auf Facebook. Ich freue mich darauf! Thank you for the Music.
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