Man(n) sagte es durch Musik.
Alles hatte eine Bedeutung: die ausgewählten Songs, ihre Reihenfolge, die Kassettenbeschriftung.
Lesedauer: 6 Minuten, die sich lohnen.
Ein Mixtape hatte einen geheimen Code. Im Grunde war es wie im Film ‚The Da Vinci Code – Sakrileg‘ mit Tom Hanks und Audrey Tautou. Die verborgene Botschaft lautete: „Ich steh auf dich, aber ich weiß nicht, wie ich es dir zeigen geschweige denn sagen soll, und weil es auch niemand wissen darf, dass ich dich mag, weil meine Kumpels mich sonst auslachen würden, sage ich es dir durch dieses Mixtape.“ Kaum 13, 14 Lenze jung, kam man sich vor wie eine Mischung aus Don Juan und James Bond. Für heutige Jugendaugen übersetzt: Ein Mixtape war ein musikalischer Emoji. Nein, es war viel mehr als das. Es war das eigene kleine Herz auf einem Silbertablett überreicht. Auf einem Silbertablett der Marke BASF, TDK oder Maxell. Darauf packte man alles, was der gerade einsetzende, persönliche Sturm und Drang einem emotional ermöglichte sowie alles, was man über „Boy meets Girl“ bereits wusste – bzw. was man glaubte, zu wissen. Sie wissen was ich meine. 🙂
Jedenfalls glichen die Planung und die Umsetzung eines Projekts „Mixtape“ einer wissenschaftlichen Abhandlung, seine Überreichung war eine Mutprobe. Aber all das war es wert – bestand doch die berechtigte Hoffnung auf einen Zugewinn an Sympathie vonseiten der insgeheim angebeteten jungen Dame. Anders gesagt: Die Anfertigung eines Mixtapes war eine heilige Mission.
Vergesst Walther von der Vogelweide – hier kommt Matthias aus der Ringstraße!
Im Hochmittelalter zogen Minnesänger wie Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach durch die Lande, schlugen die Laute und – so wollte es die hohe Minne-Schule – gaben unter dem Balkon des angeschmachteten Burgfräuleins ihre Liedkunst zum Besten. Ohne Aussicht auf Erfolg, dramatischerweise. Denn ein Minnesänger durfte ausschließlich schmachten und leiden, aber SIE niemals erobern. So wollten es die Standesregeln. Na toll.
Doch nun, wir schrieben die frühen Achtziger, wohlan und Mut geschöpft! Statt Pferd, Laute und Althochdeutsch-Hit waren es bei uns also Schulbus, BASF-Kassette und ‘Foreigner – I Want To Know What Love Is‘. Die Erfolgsaussichten: im Grunde ebenso vage. Doch die Hoffnung starb auch schon bei einem 13-Jährigen zuletzt. Also zog man in die Schlacht. (Junger) Mann, war das aufregend! Ein Finale von DSDS war ein Scheiß dagegen.
Hier die Herangehensweise an ein Mixtape.
Es war genau so, wie nachfolgend beschrieben. Liebe Männer: Ihr wisst, von was ich spreche. Holde Damen: Ihr erfahrt es spätestens heute.
Schritt 1: Klärung der grundlegenden Fragen.
Als da waren:
Frage 1: Wie deutlich soll die Botschaft werden? Denn daraus resultierte wiederum die Frage: „Nur Lovesongs oder Lovesongs mit ‚normalen‘ aktuellen Hits gemischt?“
Dass unabhängig von der Antwort Lieblingssänger / die Lieblingssängerin / die Lieblingsband der Beschmachteten auf dem Magnetband vertreten sein würde, war natürlich selbstverständlichst.
Frage 2: Welche Lieder sind Pflicht und müssen drauf, welche sind Ergänzungen – für den Fall, dass die geschätzte kumulierte Gesamtspieldauer im Verhältnis zur tatsächlichen Bandlänge in Minuten (90er- oder 60er-Tape?) noch etwas Platz ließ?
Frage 3: Welcher Song soll bzw. muss das Mixtape eröffnen? Denn ihm kam eine besondere, ja: programmatische, Bedeutung zu, in Bezug auf die Gesamtaussage!
Frage 4: Welches sind die ersten 3 bis 5 Songs auf Seite 1? Welches sind die beiden ersten Songs auf Seite 2 – und welches werden (in geschätzter Abhängigkeit von der Bandlänge, s. o.) die beiden letzten Songs des Tapes sein? Denn, klar: Sie würden besonders in Erinnerung bleiben, sie mussten den Gesamteindruck (= die Gesamtaussage) vollenden!
Frage 5: Wie sollte die Beschriftung der Kassettenhülle lauten bzw. gestaltet sein? Dies implizierte auch die beiden schmalen Aufkleber, oben oder unten, auf den beiden Seiten des Tapes.
Bestand über die Antworten auf diese lebensentscheidenden Fragen Klarheit, ging es zu
Schritt 2: Definition der Liedquellen.
Konkret: Wo bekomme ich die benötigten Songs her? Mögliche Lösungen:
Lösungsmöglichkeit 1: Ich besitze einige der Songs auf Platte (Idealvariante, da das Lied in bester Qualität und vollständig überspielt werden konnte)
Lösungsmöglichkeit 2: Ich habe einige der Songs in den vergangenen Wochen auf Kassette aufgenommen (der Normalfall, siehe auch meinen Blogbeitrag Die Kunst des Aufnehmens. Oder: „Hoffentlich quatscht er nicht rein!“).
Hier jedoch das Problem: Meine Stereoanlage verfügte über lediglich ein Kassettenlaufwerk – wie also sollte ich den Song von jener Kassette auf das Mixtape bekommen? Mögliche Abhilfe: (Unauffällig! … schließlich durfte niemand auch nur ahnen, dass man ein monströses Werk wie die Erstellung eines Mixtapes plante) Herumfragen, wer noch ein zweites Tapedeck besitzt und es mir leihen könnte, selbstverständlich im Austausch gegen mehrere Panini-Fußball-Bundesliga 1983/84-Sammelbilder.
Nächstes Problem: Ich besitze einen oder mehrere der Songs weder auf Platte noch auf Tape (mögliche Gründe: Ich finde den Song doof (das aber war egal, denn hier ging es schließlich nicht um mich, sondern um SIE); Ich habe ihn im Radio bislang verpasst (dies jedoch war quasi ein Ding der Unmöglichkeit)).
Lösungsmöglichkeit 3: (Unauffällig!) Herumfragen, wer die Platte bzw. den Song auf Tape besitzt.
Lösungsmöglichkeit 4: Den Song im Radio jagen (siehe einmal mehr meinen o. g. Blogbeitrag).
Sobald dies alles endlich geklärt war, wurde es ernst … Auf zu
Schritt 3: Umsetzung.
Nun zog man wie ein Ritter in die Schlacht. Es war nicht weniger als das.
Während Mama im Keller bügelte, nahm im Jugendzimmer das Schicksal seinen Lauf.
Lied für Lied wurde liebevoll platziert. Selbstverständlich hatte man zuvor eine wohldurchdachte Songliste entwickelt und dabei den perfekten Spannungsbogen kreiert, damit da im Eifer des Magnetbandgefechts nichts schief ging und man womöglich ein Lied aufspielte, das da noch gar nicht hin gehörte und sowohl den Spannungsbogen wie die geheime Botschaft verzerrte. Oder, noch schlimmer: dass man ein Lied vergaß! Während ich das heute schreibe, muss ich über alle Backen grinsen – damals jedoch war einem überhaupt nicht danach. Vielmehr hoffte man, dass Madame verstehen würde, was man ihr hier mit flammendem Herzen vermittelte – z. B. mit den ersten Worten des Songs ‚Leuchtturm‘ von Nena: „Ich geh mit dir wohin du willst – auch bis ans Ende dieser Welt!“ Wie deutlich konnte man noch sein??!? #Aaargh Oder ‚Somebody‘ von Depeche Mode: „I want somebody to share for the rest of my life, share my innermost thoughts, know my intimate details.“ Noch Fragen? Ganz zu schweigen vom bereits erwähnten Foreigner-Song ‚I Want To Know What Love Is‘ oder von Bryan Adams – ‚Heaven‘. Mehr Drama ging nicht.
Abschließende Problematiken:
War es dann endlich geschafft und glich das sorgsam ausgearbeitete Werk in puncto Detailtiefe einem Handelsabkommen zweier Großmächte, so blieben noch die Fragen „Notiere ich die Songtitel auf der Kassettenhülle oder soll es für sie eine Überraschung werden, was drauf ist?“ Hmmm … Und: „Schreibe ich ihren Namen auf die Hülle und die Kassette oder wie nenne ich das Werk?“ Hmmmmmm ….. Doch das war beides nichts gegen die finale Frage aller Fragen: „Wie soll sie das Tape erhalten – auf welchem Weg?“ Feierlich überreichen ging gar nicht, schließlich wäre das einem Eingeständnis gleich gekommen, was man für sie empfindet. Unauffällig in den Schulranzen werfen könnte sie als „zu beiläufig“ interpretieren … Also vielleicht das Gespräch so in Richtung „Aktuelle Hits“ treiben, gespielt, ganz nebenbei, anbieten, „Ich könnte dir ja mal eine Kassette machen.“, was sie nicht ablehnen würde, dadurch einerseits ihre Sympathie generieren sowie andererseits diese bis zum Tag X, dem Tag, an dem man ihr das Machwerk präsentieren würde, konservieren und ihre Erwartungshaltung maximieren? Hmmmmmmmmmm …
9 von 10 Schuljungs wissen heute: Für SIE war es lediglich eine Kassette mit Songs. #Drama
Tauscht man auf einer Party oder bei einem Klassentreffen mit einer Bekannten oder Freundin Erinnerungen aus und kommt man dann aufs Thema Musik, so fällt irgendwann auch das Stichwort „Mixtape“. Die fatale Erkenntnis: Mädels hatten nicht die leiseste Ahnung von der dramatischen Arbeit und der tiefen Bedeutung, die sich hinter einem Mixtape verbargen … Andererseits: Macht aber nicht gerade auch das irgendwie die Romantik jenes Tuns aus? Jenes Minnediensts? Auch wenn es nicht direkt etwas genutzt hat (ich kenne jedenfalls keinen Freund von früher, der mittels eines Mixtapes einen messbaren Erfolg verbucht hätte 😉 ). Ich finde: In gewisser Weise kann man ein bisschen stolz darauf sein. Denn man hat einfach sein kleines Herz in das Tape genommen und: gemacht! Womit man selbst als 13-jähriger Knirps durchaus in der Tradition der hochmittelalterlichen Kollegen stand. 😉 Ich bin sicher: Heute sind die Medienformate andere, aber das Ansinnen und die Umsetzung sind identisch. Haben Sie Kinder? Achten Sie mal darauf. Ich jedenfalls muss, wenn ich einstige Mixtape-Songs im Radio höre oder als DJ auflege, immer wieder lächeln. Weil es für mich auch heute noch etwas Besonderes ist, damals derart agiert zu haben. Weil die Tatsache, durch Musik Freude zu bereiten, damals wie heute einfach etwas Schönes ist.
Jemand Lust auf ein Mixtape?
Haben auch Sie derart prägende Erinnerungen an „Ihre“ Musik? An eine bestimmte Band, an einen Künstler (w/m/d) oder an bestimmte, mit Musik in Zusammenhang stehende Erlebnisse?
Schreiben Sie es mir per Mail oder als Kommentar auf Facebook. Ich freue mich darauf! Thank you for the Music.
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